Hinsichtlich der ersten Hälfte kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Autorin beim Schreiben unter Zeitdruck gestanden hat. Verträge mit dem Verlag? Nervosität nach dem fulminanten Anfangserfolg des "zweiten Königreichs"? Gier, die Gunst der Stunde kommerziell zu nutzen? Wie dem auch sei: der König der purpurnen Stadt liest sich wie oberflächliche Massenware und das kommt so:
Damit der arme Waisenjunge aus einfachsten Verhältnissen Anschluss an die Geschehnisse der Zeit bekommt, bemüht Gablé übermäßig viele unglaubliche Zufälle. Im Hintergrund die hutzlige scheinbar bitterarme Großmutter, die durch geheime Tuchgeschäfte mit dem Adel im Stande ist, Jonah unerwartet Startvermögen und Haus zu hinterlassen. Dann wird Jonah vom König höchstpersönlich das Leben gerettet, rettet im Gegenzug der Königin das Leben und in einem Atemzug auch noch das Leben einer weiteren jungen Frau - "zufällig" der Tochter des reichsten Kaufmannes von England. Mit der Königin entsteht ein lebenslanges Flirtverhältnis. Als modebewusste Frau fördert sie unseren Helden mit dem wundervollsten Modegeschmack. Aus der zweiten Rettung entsteht -sehr vorhersagbar- die erforderliche Heirat mit einer absolut wundervollen Gattin - jung, hübsch, wohlerzogen, klug, liebevoll, resolut, die die Herzen der Untergebenen schmelzen lässt, dabei immer den rechten Abstand wahrt, sehr temperamentvoll dabei aber nie unbeherrscht oder ungerecht ist usw. Alles sehr dick aufgetragen!
Was fehlt noch? Ach ja. Um erfolgreich in höchsten Kreisen zu verkehren, braucht man ständig Geheiminformationen über Konkurrenten, Feinde und politische Hintergründe. Also muss Jonahs Jugendliebe, Hausmädchen aus dem Tuchhändlerhaushalt, in dem Jonah Lehrjunge ist, vom Meister vergewaltigt und schwanger werden und - oh Wunder - im teuersten und edelsten Bordell Londons enden, wo sie sich aber pudelwohl fühlt. Dort verkehrt nicht nur der Adel, alle Würdenträger der Stadt, die reichsten Kaufleute und ausländische Bankiers, sondern natürlich auch Jonah, der schwupps Zugang zu märchenhaften Verbindungen, und geheimen Informationen bekommt. Wie einfallslos. Beim Lesen hat man ständig das Gefühl, nicht Menschen aus Fleisch und Blut vor sich zu haben, sondern Funktionsträger, die nur auftreten, damit die Geschichte irgendwie funktioniert. Man sieht immer das nackte Gerippe des Entwurfs.
Schade auch, dass zwar etliche Details der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu erfahren sind, sich aber trotzdem kein "historisches Gefühl" einstellt. Alles liest sich eher wie ein PC-Spiel Marke Wirtschaftssimulation. Außerdem rutscht sie zu oft in Gegenwartssprache des 20. Jahrhunderts, etwa wenn Jonah über etwas nachdenken muss und das selbst als "Denksportaufgabe" bezeichnet.
In der zweiten Hälfte gewinnt das Buch dann doch langsam an Fahrt. Es fängt an,über die reine Familiengeschichte hinaus, in den politischen Bereich zu greifen. Alles wird komplexer. Der Schreibstil wird besser und vor allem gewinnen die Figuren endlich an Tiefe. Die Geschichte steigert sich beständig, so dass einem die Geschichte und ihre Charaktere schließlich doch noch ans Herz wachsen und sogar zu Tränen rühren. Insgesamt ist es bei weitem nicht so gut wie das "zweite Königreich", trotzdem möchte ich ihr bescheinigen, dass sie sehr schöne Geschichten erzählen kann. Jonah Durham und Familie werden wir so schnell nicht vergessen! Ende gut - alles gut...